Thema: Tatbestand und Sachverhalt

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Tatbestand und Sachverhalt
04.12.2007 von Brezi

Tatbestand und Sachverhalt
04.12.2007 von Brezi

Wieder einmal sind die Kennerinnen und Kenner des BRD-Deutsch gefragt.

Immer wieder höre ich in deutschen Fernsehsendungen, wie das Wort "Tatbestand" in einer mir vom Österreichischen verschiedenen Bedeutung verwendet wird.

Meines Erachtens bedeutet "Tatbestand" hierzulande korrekterweise die Summe aller strafbaren Handlungen, die eine Person begangen hat bzw. die erfüllt wären, wenn sie etwas Bestimmtes täte. Beispiel: "Dem Angeklagten wird aufgrund seiner Kidnapping-Aktion mit dem Auto der Tatbestand der Freiheitsberaubung und der Gemeingefährdung zur Last gelegt". Gegebenenfalls kann man das auch noch halb scherzhaft im übertragenen Sinn verwenden: "So deppert wie die das erklärt hat, erfüllt es den Tatbestand der gezielten Desinformation".

Auf deutschen Fernsehsendern hört man aber das Wort "Tatbestand" häufig in der Bedeutung "Sachverhalt".

Meine Frage: ist diese Bedeutung in D richtig, oder begeht jemand, der in D zum Sachverhalt Tatbestand sagt, ebenfalls eine Schlamperei?

Und was sagen Österreicher zu meiner Behauptung. Kann man umgangssprachlich auch hierzulande statt "Sachverhalt" "Tatbestand" sagen, ohne eine Abmahnung durch die Sprachpolizei zu riskieren?

Tatbestand
04.12.2007 von Josef

Nein, die geschilderte Verwendung dieses Wortes ist nicht richtig! Auch nicht in der BRD.

Es handelt sich hier - wie so oft! - um eine reine Modeerscheinung, die mehr und mehr als "chic" empfunden wird! Einer sagt's, der oder die andere plappert's nach. Keiner denkt über den Sinngehalt nach.

Ähnliche Wortmoden sind z.B. "vor Ort" (für "an Ort und Stelle"), "zeitnah" (für "bald" oder "möglichst bald") usw.

Josef

Re: Tatbestand und Sachverhalt
09.12.2007 von Weibi

.
Meines Erachtens bedeutet "Tatbestand" hierzulande korrekterweise die Summe aller strafbaren Handlungen, die eine Person begangen hat bzw. die erfüllt wären, wenn sie etwas Bestimmtes täte. .
.?


Also, wenn ich meinem Mann ausführlich Bericht erstatte, wann, wo und unter welchen peniblen Umständen ich täglich sein herumliegendes G'schlanklwerk aufsammle und dahin gebe, wo es hingehört, dann schildere ich einen (objektiven!) Sachverhalt.
Wenn ich allerdings dieselbe Schilderung mache mit der Absicht, ihm die Löffel lang zu ziehen, das Essen zu versalzen etc.etc., kurz, ihm unverzeihlicher Straftaten beschuldige, dann zeige ich einen Tatbestand auf.
Alles klar?

Danke
15.12.2007 von Brezi

Ich benutze Weibis pointierte Antwort gleich dazu, um mich, was schon längst fällig gewesen wäre, für die Antwort Josefs auf meine Frage zu bedanken. War schlamperei, dass ich es nicht gleich getan habe. Und wenn man es nicht gleich tut, vergisst man dann auf ewig. Danke und ich freue mich, in meiner Annahme bestätigt zu sein. Zum Themenkomplex Modewörter könnte ich Bücher schreiben, allein über das was ich zum K..... (österreichisch: zum Sp.....) finde. Da wurde in Deutschland ein Jahr lang der Ball prinzipiell nur mehr ins Tor geschlenzt. Im nächsten Jahr wurde er gezirkelt. Und für jeweils ein Jahr kam sich jeder Reporter irre cool vor, weil er das Wort gebrauchte. Beim Tennis stand es für ein halbes Jahrzehnt "Null zu Dreißig aus der Sicht von Martina Navrátilova, Roger Federer ...", wem auch immer . Und in Österreich war jeder Verstorbene (ohne Tod wirst ja in Felix Austria keine verdiente Persönlichkeit), war also jeder, der durch seinen Tod zur hochvderdienten Persönlichkeit aufstieg, eine Ikone, die zeitlebens eine Institution gewesen war, weil sie in der Welt des/der <hier Fachgebiet einsetzen> seinerzeit für einen Quantensprung gesorgt hatte. Wenn auch nur 1 % derer, die das Wort Quantensprung vor aufgedrehtem Mikro benutzten, eine Ahnung hatten, was ein Quantensprung ist, heiße ich ab morgen Tobias Lutschker. Noch schlimmer war es, als jemand eine besonders mutige Frau als "Mutter Courage" bezeichnet hatte. Man sollte die Theaterstücke, aus denen man seinen Wortschatz holt, halt auch lesen. Bert Brechts Mutter Courage ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was diese Journalisten meinten, nämlich eine opportunistische, über Leichen gehene Kriegsgewinnlerin.

Und jetzt höre ich lieber auf.

Danke noch einmal für die gescheiten Antworten auf meine Frage.

Brezius

Ein Nachsatz noch zu den allgemeinen NaWi-Kenntnissen mitteleuropäischer JournalistInnen. Ich pflege immer zu sagen: wenn du denen erzählst, dass ein Stück Seife aus unzähligen Atomen besteht, glauben sie, sie haben eine Bombe im Badezimmer. Dass sie nach Černobyl Cäsium für etwas hielten, das prinzipiell radioaktiv sei, gehörte schon zur Standesehre. Von der "normalen" Bevölkerung erwarten wir dann, dass sie jeden öffentlich deponierten Verbalmüll sofort als solchen durchschauen.

Umgekehrt und andererseits: wie viele Fachausdrücke sind völlig offiziell falsch! Jeder Feuerwehrmann echauffiert sich darüber, dass wir die Wörter "Brand" und "Feuer" nicht unterscheiden können. Feuer ist etwas Gewolltes. Brand ist ein Feuer, das außer Kontrolle geraten ist. Aber die Feuerwehrmänner werden schnell verlegen, wenn du sie fragst, warum sie dann nicht Brandwehrmänner heißen. Und ähnlich verhält es sich mit dem Großgrundbesitzer, der nach allen Regeln der juristischen Sprachkunst eigentlich "Großgrundeigentümer" heißen müsste. Tja. Sprache und Logik sind einander ziemlich weitgehend ausschließende Gebiete.

Re: Tatbestand und Sachverhalt
30.12.2007 von System1

"Brezi"
Meines Erachtens bedeutet "Tatbestand" hierzulande korrekterweise die Summe aller strafbaren Handlungen, die eine Person begangen hat bzw. die erfüllt wären, wenn sie etwas Bestimmtes täte.

Tatbestand bedeutet, daß daß "alle Merkmale auf etwas (eine bestimmte Straftat) hinweisen".
So sagt man: Diese Handlung erfüllt den Tatbestand einer schweren Körperverletzung.


Und was sagen Österreicher zu meiner Behauptung. Kann man umgangssprachlich auch hierzulande statt "Sachverhalt" "Tatbestand" sagen, ohne eine Abmahnung durch die Sprachpolizei zu riskieren?

Der Sachverhalt ist der tatsächliche Stand der Dinge . So steht es auch im aktuellen "österreichischen Wörterbuch"
Die Sachverhaltsdarstellung ist ergo die persönliche Darstellung/Beschreibung eines Vorfalls bzw. der Bericht über den beobachteten Stand der Dinge/des Vorfalls.

Wikipeda:Tatsachen sind daher bestehende Sachverhalte (Wittgenstein). Sachverhalte können sich (später) genauso gut als Annahmen (etwa in einem Roman oder einem Experiment), als irrtümliche oder als irreführende Aussagen erweisen.

Re: Tatbestand und Sachverhalt
30.12.2007 von Weibi



Wikipeda:Tatsachen sind daher bestehende Sachverhalte (Wittgenstein). Sachverhalte können sich (später) genauso gut als Annahmen (etwa in einem Roman oder einem Experiment), als irrtümliche oder als irreführende Aussagen erweisen.


Wodurch dann auch den Tatsachen die Grundlage entzogen wurde?
Weibi

Re: Tatbestand und Sachverhalt
31.12.2007 von System1

Kann schon mal vorkommen.

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Österreichisches Deutsch bezeichnet die in Österreich gebräuchlichen sprachlichen Besonderheiten der deutschen Sprache und ihres Wortschatzes in der hochdeutschen Schriftsprache. Davon zu unterscheiden sind die in Österreich genutzten bairischen und alemannischen Dialekte.
Teile des Wortschatzes der österreichischen Standardsprache sind, bedingt durch das bairische Dialektkontinuum, auch im angrenzenden Bayern geläufig.

Einige Begriffe und zahlreiche Besonderheiten der Aussprache kommen aus den in Österreich verbreiteten Mundarten und regionalen Dialekten, viele andere wurden nicht-deutschsprachigen Kronländern der Monarchie entlehnt. Eine große Anzahl rechts- und verwaltungstechnischer Begriffe sowie grammatikalische Besonderheiten gehen auf das österreichische Amtsdeutsch im Habsburgerreich zurück.

Außerdem umfasst ein wichtiger Teil des speziell österreichischen Wortschatzes den kulinarischen Bereich; einige dieser Ausdrücke sind durch Verträge mit der Europäischen Gemeinschaft geschützt, damit EU-Recht Österreich nicht zwingt, hier fremde deutschsprachige Begriffe zu verwenden.
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